Derweil in der moorigen Festungswelt…
Tief atmete Thora die frische, kühle Luft ein. Die gelbrote Sonne am Horizont stieg in einem niedrigen Bogen langsam höher und überzog den flachen Bodennebel mit einem rosafarbenen Schimmer. Der mit dem Sonnenaufgang mitunter böig auflebende Wind schob die graue Wolkenwand beständig zur Seite, um der Sonne und dem Licht Platz zu schaffen.
Alles deutete auf einen schönen Tag hin. In dieser Welt schien es keine kräftigen, auffälligen Farben zu geben. Ein zartblauer Himmel, vom Sonnenlicht hellrosa angestrahlte Wolken, ein hellgrüner Pflanzenteppich, in dem die verstreuten winzige Farbtupfer der kleinen Blütenstauden für Abwechslung sorgten. Die farbigen Blütenköpfe ragten aus den hellgrauen Nebelschwaden hervor, die sich aber im fortschreitenden Tageslicht langsam verflüchtigten.
Das leicht hügelige Gelände um das trutzige Gebäude bestand ausnahmslos aus weiten Wiesen, die in regelmäßigen Abständen von halbhohen dichten Hecken umsäumt wurden. In der Nähe musste sich eine Steilküste befinden, denn das Donnern einer heftigen Brandung war deutlich zu vernehmen. Über den dichten Hecken kreiste eine Unmenge von Vögeln, die in dem schützenden Gestrüpp wahrscheinlich ihre Nester gebaut hatten.
Die Festung war bewohnt, das stand zweifelsfrei fest, doch deshalb war sie nicht hierher gekommen. Eine unerklärliche Scheu hielt Thora davon ab, sich näher mit diesem düster wirkenden Schloss zu befassen. Instinktiv benutzte sie deshalb auf ihrem Weg zur Steilküste die dichten Hecken als Deckung.
Das gischtende Donnern von Wasser wurde lauter und als das Gelände plötzlich steil abfiel, konnte sie tief unter sich eine von hohen Felsen umschlossene Sandbucht erkennen. Die Wellen des im frühen Morgenlicht golden leuchtenden Meeres brachen sich in regelmäßigen Abständen brausend an den Felsen.
Corac bewegte sich heftig in ihrem Arm und begann mit seinem Schnabel unwillig um sich zu hacken. Dabei schlug er kräftig mit den Flügeln. „Koooorrrraaaaahhhh……“
„Aber du kannst doch noch gar nicht fliegen…“ schimpfte Thora. Ihre Blicke verfolgten die riesigen, dunklen Vögel, die sich hoch über der Bucht mit den Flügeln rüttelnd in der Luft hielten. Krrooooaaaahhhsss….Krrraaaahhhh…..gellten ihre tiefen heiseren Schreie gegen den Wind und der wilden Brandung.
Corac zappelte so heftig, dass sie ihn nicht mehr halten konnte. Vorsichtig setzte sie ihn nahe der Steilklippe ins Gras. Wieder schlug er mit den Flügeln und tänzelte an der Abbruchkante aufgeregt hin und her. In die riesigen Greifvögel hoch in der Luft kam Bewegung. Ihre auffordernden Schreie ließen Corac immer unruhiger an der Klippe entlanglaufen.
Ohne Vorwarnung stürzte er sich plötzlich mit ausgebreiteten Flügeln in die Tiefe. Erschrocken sah Thora hinterher. Corac fiel zunächst wie ein Stein…dann jedoch schaffte er es, in einem schon fast eleganten Gleitflug überzugehen, wobei die großen Raubvögel seine emsigen Bemühungen mit lauten Rufen und akrobatischen Flugkünsten kommentierten. Als Corac etwas unsanft auf dem sandigen Boden landete, hüpften die riesigen Vögel sogleich in seine Nähe, um ihn neugierig zu beäugen. Mit seinem Hakenschnabel grub einer der Vögel im feuchten Schlick und zog ein zappelndes Etwas heraus, welches er Corac hinhielt, der nach kurzem Zögern gierig danach schnappte.
Erleichtert betrachtete Thora das rührende Schauspiel, welches sich vor ihren Augen tief unter der steilen Klippe abspielte. Corac war offensichtlich adoptiert worden. Die großen Altvögel hatten ihn als ihresgleichen angenommen und würden ihn lehren, sich in der neuen Umgebung zu behaupten. Wie würde Corac aussehen, wenn er ausgewachsen war? Vielleicht so ähnlich wie die Altvögel? Doch wie auch immer…eines stand fest…um Corac brauchten sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Er war inzwischen von den großen Vögeln regelrecht umzingelt und hatte ein reichhaltiges Frühstücksmenü aufgetischt bekommen, wovon er sich eifrig bediente.
Als der Pulk der Altvögel sich nach einiger Zeit etwas lichtete, sah sie Corac satt und zufrieden im Sand sitzen…um sich die Reste seiner Mahlzeit. Er schlug laut krächzend mit den Flügeln, bevor er startete und sich nach einigen Laufschritten in die Luft erhob. Und wieder waren seine Adoptiveltern zur Stelle…schoben sich in der Luft an seine Seite…flogen in gemächlichem Tempo unter ihm hinweg. Immer höher…der Sonne entgegen und weit über das tobende Meer hinaus. Keine Frage…Corac war glücklich und damit war ihre Aufgabe, weswegen sie hergekommen war, beendet.
Sie musste nun schnellstmöglich zurück zu den Freunden, die sich sicher die größten Sorgen um sie machten. Bevor sie die Linien auf der Linkplatte nachzog, um über die Schatzkammer wieder zu Cathy und Sharie zu gelangen, sah sie noch einmal zur Festung hinüber, in deren Fensterscheiben sich nun die Sonne spiegelte. Thora hob schützend die Hand über die Augen, um besser sehen zu können.
Vom Weg, der hinter der Festung ins Land hineinführte, bewegte sich eine Gruppe von lachenden und schwatzenden Menschen auf das Eingangstor zu. Es waren in der Hauptsache Kinder, die von einigen weiblichen Erwachsenen begleitet wurden. Auf dem Rücken trugen alle einen kleinen Rucksack, der wohl Proviant enthielt. Vielleicht kamen sie von einem morgendlichen Ausflug zurück! Oberhalb des Eingangs öffnete sich ein Fenster und zwei Menschen winkten den Ankömmlingen zu. Der Wind trug die fröhlichen Stimmen zu Thora hinüber…lächelnd sah sie zu, wie die eifrig schnatternde Schar in dem geöffneten Eingang verschwand. Dann war außer dem Schreien der Sturmvögel und dem Donnern der Brandung wieder alles ruhig.
Familienbande…seufzte sie und dachte kurz an ihren Vater…ob er wohl schon wieder in der Stadt war? Doch sofort schob sie die fruchtlosen Gedanken beiseite, denn im Moment gab es andere Probleme. Wenn sie sich nun zur Festung begab, würde sie bei so vielen fröhlichen Menschen sicherlich so schnell nicht mehr fortkommen. Sie zuckte die Schultern…ihre Sorge um die Freunde, die sie bei ihrer Flucht allein zurückgelassen hatte, war größer als alles andere.
Sie zog die Metallplatte aus der Innentasche hervor. Schnell zog sie das Symbol nach, was sofort aufleuchtete und die Umgebung der Feuchtlandschaft wich der diffusen Dunkelheit der Weltenschatzkammer. Doch etwas war seit ihrem letzten Besuch anders…sie registrierte es sofort. Dann sah sie es…die Säule, von der Sharie und sie die Metallplatte genommen hatten, war fort. Wahrscheinlich hatte sie sich automatisch nach einiger Zeit wieder in den Boden gesenkt.
Sie schritt zum Weltentuch, welches die Berge hinter Cathys Hütte zeigte und an dessen Rand sich ein kleines wappenähnliches Symbol befand. Hatte Sharie nicht damals dieses Symbol berührt und hatte sich nicht erst daraufhin die Säule mit der Metallplatte aus dem Boden erhoben? Konnte sie dies noch einmal wiederholen? Ein Versuch konnte nicht schaden…sie strich noch einmal über das Symbol und wieder erklang das leise Singen der sich öffnenden Bodenmosaiken.
Thora drehte sich um und beobachtete die Säule, die sich neuerlich aus der entstandenen Öffnung erhob. Doch es war eine andere Säule und auch die Bodenplatten hatten sich an einer anderen Stelle geöffnet als beim letzten Mal. Doch die leuchtende grünliche Aura, in der eine Metallplatte ruhte, war die gleiche. Es gab also zwei Platten…wahrscheinlich hätten Sharie und sie es geschafft, gleich beide Platten zu finden und mitzunehmen, wenn sie sich etwas intensiver mit diesem Raum beschäftigt hätten. Thora griff in das grünliche Licht und zog die Platte heraus. Nun konnte sie gleich ausprobieren, ob diese auch funktionierte und sie an das richtige Ziel führte.
Sinnend betrachtete sie die idyllische Szene mit dem von undurchdringlichem Nebel eingehüllten Berg…bevor sie die neu gefundene Platte auf das Bild drückte und gleich darauf am Ende der ausgedehnten Wiese direkt am Waldrand Cathys Hütte zu sehen. Von den Freunden gab es keine Spur….Prüfend sog Thora die Luft ein…alles war normal…keine Atembeschwerden…keine Panikgefühle…nur müde war sie…unendlich müde…wann hatte sie eigentlich zum letzten mal richtig geschlafen?
Sie gähnte verhalten, bevor sie sich auf den Weg zur Hütte machte, in der sie die Freunde vermutete. Auf halbem Wege wurde die Tür geöffnet…
„Cathy…Sharie…“ rief Thora erleichtert und winkte. Sie lief auf die Freunde zu und umarmte beide. „Was bin ich froh, euch wohlbehalten wieder zusehen!“
„Thora…“ kam es von Sharie…“Ich hätte nicht gedacht, dass du zurückkommst, denn Überraschungen sind bei dir nichts Neues!“ Doch ihre anfangs finstere Mine hellte sich zusehends auf.
„Ich habe dir doch gesagt, Sharie, dass sie wiederkommt…schließlich hat sie doch hier alles liegen und stehen lassen…“ erwiderte Cathy trocken. „Ich vermute, dass du deine Gründe hattest, Thora? Aber wo ist unser Schützling…?“
Thora sah Cathy in die angstvoll geweiteten Augen und drückte beruhigend ihren Arm. „Mach dir keine Sorgen, Cathy. Ich habe gut für ihn gesorgt und er hat nun große, starke Freunde, die ihn viel besser versorgen können als wir. Lasst uns ins Haus gehen, dann erzähle ich euch alles…“ Wieder gähnte sie unterdrückt und hob die schweren Augenlider…“Ich habe auch eine zweite Platte organisiert…fragt mich jetzt nicht, wie…ich denke aber, dass wir damit nun etwas beweglicher sind. Hätten wir von Anfang an zwei besessen, hättet ihr mir leicht folgen können.“
Sie streckte Sharie die neue Metallplatte mit den verschlungenen Linien hin, die sie vorsichtig in die Hand nahm und prüfend betrachtete. Das hätten wir mit Sicherheit…du Weltenflüchtling…! Wo du bist…sind Aufregungen garantiert.“
„Sei doch froh darüber, Sharie…“konterte Thora…“so hast du immer Action und deine Nerven werden trainiert. Das ist doch auch was…!“
„Siehst du, Cathy…wie es mir geht? Verstehst du jetzt, warum ich mal alles rausbrüllen musste? Sie will mich…Thora…was ist? Hast du was?“ Erschreckt hielt Sharie inne und musterte die Freundin besorgt.
„Ach Kinder…ich bin nur müde…so furchtbar müde…“ Wieder gähnte Thora hinter vorgehaltener Hand und die Tränen liefen aus den geröteten Augen. Mit schleppenden Schritten betrat sie Cathys behelfsmäßiges Heim.
„Wie gemütlich es hier ist…“ fast liebevoll richtete sichThora den welken Blätterhaufen auf dem einfachen Lager zurecht, setze sich stöhnend auf die harte Kante, zog mühsam die Beine hoch, rollte sich mit dem Gesicht zur Wand ein und nur wenig später verrieten tiefe Atemzüge, dass Thora sich im Reich der Träume befand.
Fassungslos starrten Sharie und Cathy auf die zufrieden schnurchelnde Thora….
„Hmm, Sharie…ich schätze, sie braucht es jetzt. Lassen wir sie schlafen!“
„Sicher wird sie müde sein…nur…ich weiß nicht so recht…das bin ich von ihr nicht gewohnt. Sie ist immer mit wenig Schlaf ausgekommen. Es war eigentlich immer umgekehrt…ich habe geschlafen und sie hat gewacht…“ Mißtaurisch ruhte Sharies Blick auf Thora…
„Komisch…“ murmelte sie leise.
Unschlüssig drehte sie die Metallplatte, die den Weg zur Schatzkammer der Welten freigab, in der Hand…
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