Sie erwachte immer wieder aus einem unruhigen Schlaf. Jedes Mal erhob sie sich leise, um die fest schlummernde Seleste nicht zu wecken und trat an Andromedas Lager. Die Freundin schlief trotz ihrer schweren Verletzung ungewöhnlich ruhig und sie deutete dies als ein gutes Zeichen für eine Genesung.
Doch sie war andererseits viel zu erfahren, um sich davon täuschen zu lassen, denn Andromeda fieberte bereits und erst der kommende Tag würde zeigen, wie stark deren körperliche Konstitution war, um erfolgreich mit den Folgen der Verwundung fertig zu werden. Doch auch die seelische Verfassung spielte bei der Heilung eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Thora tauchte das Tuch in das bereitstehende kühle Wasser und tupfte sacht die heiße Stirn der Freundin ab. Als diese unwillig den Kopf bewegte, ließ sie es und seufzte leise auf. Sie konnte im Augenblick nichts unternehmen und sollte besser selbst versuchen, etwas Ruhe zu finden. Nach einem letzten prüfenden Blick auf den Patienten schlich sie zu ihrem Lager zurück, legte sich nieder und zog die Decke zurecht.
Selestes tiefe Atemzüge zeugten von einem traumlosen Schlaf. Sie selbst war dazu nicht in der Lage, denn zu groß war ihre Sorge um die verletzte Freundin. Seleste war es halt gewohnt, dass Andromeda allen Problemen erfolgreich die Stirn bot und es war einfach unvorstellbar, dass diese auch einmal einen Kampf verlieren könnte.
Sinnend sah Thora in die nur noch schwach züngelnden Flammen des Kaminfeuers und eine ferne Erinnerung an eine schicksalhafte Begegnung und eine phantastische Erzählung stand vor ihrem geistigen Auge, die sie jedoch energisch wieder zurückdrängte, denn es hatte keinen Sinn, jetzt daran zu denken und außerdem änderte es an ihrer momentanen Situation nichts.
Brummend hob Seleste den Kopf und sah kurz in Richtung von Andromedas Lager. Dann drehte sie sich zufrieden seufzend auf die Seite und schlief sogleich wieder ein. Dass Thora grübelnd und hellwach neben ihr lag, schien Seleste zu entgehen.
Diese beiden Menschen verband etwas, was Thora nicht genau definieren konnte. Seleste schien als eine Art Puffer zu wirken und konnte Andromeda mit ihrer lockeren und freundlichen Wesensart erfolgreich ausbremsen, wenn deren überschäumendes Temperament die Oberhand gewann. Und doch schien es etwas zu geben, worin Seleste ihrer Gefährtin nicht folgen konnte, so sehr sich Andromeda das auch wünschte. Thora spürte, dass Andromeda etwas umgab, was diese ganz allein trug…etwas, was sie mit niemandem teilen konnte. Doch was war das?
Als hätte Andromeda ihre Gedanken vernommen, stöhnte sie auf und warf unruhig den Kopf hin und her. Zunächst wirr…dann immer klarer verständlich drangen Gedankenfetzen in Thoras Geist… „Tarouma…nein, nicht jetzt…nicht heute…noch nicht…Thoraaaaaaaa….“
Entsetzt wollte Thora aufspringen und zu der gequälten Freundin eilen, doch sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Etwas hielt sie unnachgiebig auf ihrem Lager fest und ihr Herz begann wild zu hämmern. Sie wollte rufen…schreien …nach Seleste…doch kein Laut drang über ihre Lippen.
Der kleine Raum mit allen Einrichtungsgegenständen schien sich in einem immer schnelleren Wirbel um einen imaginären Punkt zu drehen, in dessen Mitte sie sich befand. Sie schloss die Augen, um gegen den Schwindel anzukämpfen und sah wie durch einen zähen Dunst auf sich selbst herab. Schwebend verharrte sie über ihren bewegungslosen, mit geschlossenen Augen liegenden Körper…sie sah auf die schlafende Seleste…und die vom Fieber geschüttelte Andromeda, deren gepeinigte Schreie sich brennend in ihren Geist gruben.
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Dann verließ sie den Raum…strebte immer schneller in den nachtdunklen Himmel…immer kleiner wurde der helle Punkt unter ihr und immer klarer die kalte Schönheit der Sterne, die in rasendem Tempo gleich einem Überlichtflug an ihr vorbeiglitten.
In der Ferne schälte sich neben einer Doppelsonne ein Planet heraus…blaugrün…das Ziel! Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag…die Statue…die Holographie des Planeten in der unterirdischen Halle…der sehnsuchtsvolle Griff des Fremden nach der blaugrünen Welt. Nun hatte sie es fast geschafft. Dort vor ihr in der Schwärze schwebte die geheimnisvolle Welt, deren Rätsel ihr seit langem keine Ruhe mehr ließ.
Doch sie näherte sich der Welt nicht weiter, denn etwas zog sie machtvoll zurück. Erwachte sie nun aus einem Traum? Was geschah mit ihr? Sie dachte an ihren ruhenden Körper, den sie wie eine Fremde betrachtet hatte. Hatte der Geist den Körper verlassen und einer unstillbaren Sehnsucht nachgegeben? Doch wer war so mächtig, solches zu veranlassen? Es war ein uralter Menschheitstraum, den niemand sich aus eigenem Antrieb erfüllen konnte.
Der Planet entfernte sich wieder…sie konnte ihn kurz vor dem Ziel nicht erreichen und würde niemals erfahren, was es mit dieser geheimnisvollen Welt auf sich hatte. Eine diffuse Wolke glitt an ihr vorbei und eine vertraute Stimme hallte in ihrem Geist.
„Thoraaa…komm mit…zu Tarouma…sie ruft mich…ich muss …nach Zoran Dhaar kommen…“
Sie vermeinte, auf Andromedas ausgestreckte Hand zu blicken, die sich ihr hilfebringend entgegen reckte und versuchte verzweifelt, diese zu ergreifen. Das Ziel…der Planet…Andromeda konnte ihn mühelos erreichen…sie wurde wieder zurückgezogen…sie konnte es nicht schaffen…etwas fehlte…
„Ich kann nicht….ich schaffe es nicht…es zieht mich zurück…aber ich kenne es…das Ziel…“
Die Imagination der ausgestreckten Hände verharrte vor ihrem geistigen Auge. Wieder reckte sie ihre Fingerspitzen krampfhaft suchend danach aus…und griff zunächst hindurch.
„Du schaffst es, Thora…und dies ist kein Traum…sie wartet…du weißt bereits seit langem von ihrer Existenz…sonst wärest du nie bis hierher gekommen…“
Thora berührte die entgegen gereckten Fingerspitzen und mit einem letzten Ruck bezwang sie die die Kraft, die sie unaufhaltsam wieder zurück in ihre Welt zog und gemeinsam näherten sie sich der seltsamen blaugrün schillernden Welt, auf deren Ebenen das Licht der beiden Sonnen ein wahres Feuerwerk an Farben entzündete.
Leise knirschend zerbrachen die Kristalle unter jedem ihrer Schritte. Gleich einer schillernden Wolke stoben die feinen Splitter vom Boden auf und bedeckten ihre Kleidung mit einer flimmernden Schicht. Sie blieb stehen und legte ihre Hand auf die glatte Fläche des blaugrünen Kristalls, welcher sie um ein vielfaches überragte.
Milde Wärme durchströmte sie und ein leises Raunen…welches wie ein gedehntes Taroumaaa… klang, drang in ihren Geist…setzte sich fort…zu dem nächsten Kristall…von dort immer weiter in die endlose Ebene hinaus, auf der die Kristallmonolithen in allen Formen und Größen gleich einem irrwitzigen Labyrinth dicht an dicht beieinander standen.
Die Erkenntnis der großen Wahrheit ließ sie erschauern. Wieder übermannte sie die Erinnerung und wieder saß sie am knisternden Lagerfeuer und lauschte den Erzählungen der Schattenwesen…
…von dem Volk, welches vor Urzeiten seine sterbende Heimatwelt verlassen hatte, um seiner stagnierenden Kultur an einem anderen Ort zu neuer Blüte und Expansion zu verhelfen. Von der weitaus größten Gruppe, die nach Höherem strebte und fortan als geistiger Zusammenschluss in einer eigens für diesen Zweck geschaffenen Kristallwelt existieren wollte. In eine Existenz, die mit der überdimensionaler Energie der Kristalle gesichert war.
Die Erinnerungen traten zurück und die schillernden Kristalle nahmen sie erneut gefangen…
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Sie wusste es plötzlich…die geheimnisvolle blaugrüne Welt, die sie auf einer zurückliegenden Forschungsmission mit Freunden in einer überwältigenden Holographie in einer unterirdischen Halle gesehen und die unergründliche Kristallwelt, in deren Monolithen das unbegreifliche Wesen existierte…diese beiden Welten waren miteinander identisch.
Und sie musste sich sich nun auf der Kristallwelt dieses geheimnisvollen Geistwesens befinden. Die Kristallwelt…das Ziel…Teil eines Mysteriums, welches sie nie vergessen hatte. Doch welche Verbindung hatte Andromedas Volk dazu? Denn das es diese gab, stand außer Zweifel.
Und wie war sie nun hierher gekommen? Eine visionäre Geistreise? Doch sie hatte es nicht allein geschafft, sondern mit Hilfe von Andromeda, die doch schwer verletzt daheim von Fieberträumen geplagt, um ihr Leben rang. Wie sollte sie nur die vielen Puzzleteile zu einem plausiblen Ganzen zusammenfügen?
Ein leises, bekanntes Lachen in ihrem Geist ließ sie aufblicken, doch sie sah nichts. Unruhig glitten ihre Blicke über die vielfältigen Formen der Kristallmonolithen.
„Ich sehe dich auch nicht, Thora…doch ich weiß, dass du da bist. Genau wie du sehe ich nur mich selbst.“
Die Gedanken schwiegen und sie lauschte eine Weile den raunenden Tönen, die von den Kristallen ausgingen.
„Wie ist das möglich, was hier geschieht…du bist doch verletzt...“ dachte sie sorgenvoll.
„Ich spüre nichts, Thora, weil wir nicht körperlich hier sind. Du hast mich auf meiner Reise zu Tarouma begleitet. Und ich weiß auch, warum das möglich war.“
Konzentriert lauschte Thora und verfolgte mit dem geistigen Auge die glitzernden Lichtspuren, welche die beiden Sonnen auf die Kristalle malten.
„Du kanntest die Geschichte um den Exodus und die dramatische Entscheidung eines Teils des Volkes, dessen Ergebnis du hier siehst. Wir sind hier auf Zoran-Dhaar und die gemeinsame Geistkraft, die für ihren Fortbestand die Energie der Kristalle nutzt…ist Tarouma.“
In der Nähe erklang ein knackendes Geräusch, als wäre ein Kristall zersprungen. Dann gewann das immerwährende Raunen wieder die Oberhand.
„Doch ein kleiner Teil der damaligen Gruppe, die sich zu diesem letzten endgültigen Schritt entschied, hat sich doch noch für ein Leben in einer neuen Welt entschieden. Aus dieser Gruppe ist im Laufe von Äonen ein Teil unseres Volkes entstanden. Wenngleich seit diesen dramatischen Ereignissen sehr viel Zeit vergangen ist, ist die Verbindung zu Tarouma geblieben und niemals in Vergessenheit geraten.
Viele aus unserem Volk besitzen eine Art Seelenanker, welcher die innere Verbundenheit zu Tarouma stärkt. Doch nur wenige sind sich dieser Tatsache bewusst…die meisten wissen es einfach nicht mehr. Und von den wenigen, die es wissen, gibt es zurzeit keinen, der eine persönliche Verbindung zu Tarouma aufrechterhalten kann…außer mir. In der Vergangenheit ist es mir trotz meiner Bemühungen bisher noch nicht gelungen, jemanden in diese Verbindung einzubeziehen. Deshalb konnte ich Taroumas Rufen bisher nur allein folgen…und nun hast du es geschafft, mich zu begleiten.“
„Ich hätte es nicht geschafft…etwas fehlte…“
„Das stimmt…aber die Tatsache, dass du das Wissen um die tiefen Zusammenhänge von Taroumas Werdegang bereits von den alten Welten mitbrachtest, hat sicherlich maßgeblich dazu beigetragen. Und Taroumas Kräfte reichen weit über die unseren hinaus. Dieses unbegreifliche, uralte Wesen ist über jeden meiner Schritte informiert und hat mich nicht umsonst gerufen.“
„Was ist geschehen…“ dachte Thora alarmiert.
„Du kennst dein Abenteuer mit meinen uralten Büchern…“ und trotz aller Sorge ging eine Spur von Heiterkeit von Andromeda aus.
Oh ja, nur zu gut kannte sie diese Bücher, die gut konserviert sicher schon eine sehr lange Zeit überdauert hatten. Sie hatte ihren Forscherdrang nicht bezähmen können und damit fast eine Katastrophe ausgelöst.
„Diese Bücher und Welten sind sehr, sehr alt. Sie sind das einzige noch reale Vermächtnis Taroumas. Wenn diese Welten von unsachgemäßen Veränderungen in ihrem sehr labilen Gefüge gestört werden, könnte unser Heute verändert und alle unsere Träume von einer stabilen und lebenswerten Zukunft zunichte gemacht werden. Seit unzähligen Generationen werden diese Welten von Auserwählten unseres Volkes überwacht, was keine leichte Aufgabe ist…besonders, wenn unwissende Forscher sich über alles hinwegsetzen.“
Thora hob zu einer heftigen Antwort an, doch sie besann sich. Musste sie Andromeda immer wieder mit der Nase auf die Tatsache stoßen, dass sie ihren unbändigen Forscherdrang nicht zügeln konnte.
„Und nun…“ vernahm sie Andromedas weitere sorgenvolle Gedanken durch das nun fast verstummte Raunen der Kristalle…“schon seit einiger Zeit bedroht eine unbekannte Gefahr diese Welten und beginnt, sie in ihren Grundfesten zu erschüttern. Das extrem störanfällige Gefüge droht zu bröckeln und die Gefahr einer Zerstörung wächst. Ich weiß nicht, ob die Gefahr von innen heraus entsteht, oder ob sie von außen heran getragen wird.
Doch das alles geschieht nicht von heute auf morgen und ist ein sehr langer Prozess, denn Tarouma denkt in anderen Zeitmustern. Doch die Gefahr ist da und Tarouma hat mich gewarnt. Nur deshalb hat sie mich gerufen, denn sie fürchtet um ihre Existenz…um unsere und um die aller anderen in den alten Welten.“
Ein kleiner Kristall zerbarst in ihrer Nähe mit einem hell knirschendem Geräusch, welches die ungewöhnliche Stille durchbrach, die seit dem endgültigen Verstummen des summenden Wisperns die Kristallebene umfing.
Nun wusste sie, wer und was Tarouma war. Ein Teil dieses unbegreiflichen Wesens war eng mit Andromeda verbunden. Und somit bekam Selestes Antwort auf ihre Frage nach Tarouma einen nachvollziehbaren Hintergrund. Doch warum konnte Seleste, die doch mit Andromeda in solch enger Verbindung stand, diese nicht auf einer solchen Geistreise zu Tarouma begleiten?
Andromeda hatte ihre Überlegungen mitverfolgt, denn sie antwortete…
„Es geht nicht, Thora…sie ist nicht in der Lage dazu. Sie weiß zwar aus meinen Erzählungen genau darüber Bescheid, aber sie gehört zu dem größten Teil unseres Volkes, die sich dieser Verbindung nicht in ihrer ganzen Tragweite bewusst sind. Tarouma hat sich für diese Aufgabe jemand ausgesucht, den sie für geeignet hält. Ich hatte keine Möglichkeit und keine guten Gründe, die persönliche Verbindung zu Tarouma abzulehnen, was sie auch nicht hätte gelten lassen.
Dieser Weg nach Zoran-Dhaar und Tarouma ist der einzige, den ich auf diese Weise zurücklegen kann, da er von Tarouma gesteuert wird. Allein wirst du diese Reise nicht machen können, Thora! Da ich jedoch die Zusammenhänge deiner vergangenen Erlebnisse mit Tarouma bereits vermutete, habe ich, als sie mich zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt rief, einfach versucht, ob sie deine Begleitung zulässt. Das Ergebnis meiner Bemühungen kennst du nun.
Doch nun geht es zurück, Thora…gib mir deine Hand...mein lädierter Körper wartet.“
„Du hast Fieber…und nicht zu knapp…“ warf Thora ein.
„Ich weiß…aber ich habe so was bisher immer überlebt. Wende dich an Jagura…sie hat für alles eine Hilfe parat und ist in solchen Dingen unschlagbar.“
Eine imaginäre Hand griff aus dem Nichts um ihren Arm und Thora umfasste mit einem letzten Blick noch einmal die unzähligen Kristallmonolithen, in denen sich die geistige Essenz vieler Wesen zu einem einzigen zusammenballte, welches sich Tarouma nannte.
Wieder ging die Reise durch ein dichtes Sternenmeer und diesmal gelang es ihr, das unglaubliche Erlebnis zu akzeptieren. Schon nach kurzer Zeit leuchtete Andromedas Heimat vor ihrem geistigen Auge und nach dem nächsten Wimpernschlag drang eine aufgeregte Stimme an ihr Ohr und feste Hände schüttelten sie grob hin und her.
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„Thora…wach endlich auf! Verdammt…wie kannst du so ruhig schlafen, während es Andromeda so schlecht geht…“
Benommen schüttelte Thora den Kopf und sah in Selestes aufgebrachtes Gesicht.
„Sie bewegt sich nicht mehr…hörst du…sie wird sterben und du schläfst.“
Tränen schimmerten in Selestes Augen und im Hintergrund des vorwurfsvollen Blickes vermeinte Thora aufkeimendes Misstrauen zu sehen. Doch Seleste war im Augenblick sehr angespannt und hatte ihre Gefühle kaum noch unter Kontrolle.
„Nicht doch…Seleste.. beruhige dich…sie wird sicher fest schlafen…“
Sie schob Selestes Hände zur Seite und erhob sich hastig, um an Andromedas Lager zu eilen. Deren Gesicht glühte im Fieber, aber sie öffnete gerade mühsam die Augen und ein kleines Lächeln glitt über die eingefallenen Züge.
„Wir waren bei Tarouma…Thora…es war kein Traum…hörst du? Verflucht…ich will aufstehen…“
Sachte strich Thora über die heißen Hände der Freundin und mit einem ungläubigen Unterton in der Stimme erwiderte sie leise…
„…es ist alles tatsächlich so geschehen?“
„Ist es…bedenke…Jahrtausende unserer Zeit sind für Tarouma nur ein kleiner Moment…“
Erschöpft schwieg Andromeda und Thora begutachtete die Wunde, die sie mit den vorhandenen Mitteln verarztet hatte und die nun schon bedeutend besser aussah, als am Vortag. Entschlossen erhob sie sich und wandte sich Seleste zu, die Thoras Blick ablehnend zurückgab. Thora seufzte leise…das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine Seleste, die endgültig die Nerven verlor.
„Seleste…“ sagte sie deshalb mit fester Stimme… „kümmere dich um Andromeda. Ich suche Jagura.“
„Bist du wahnsinnig…es ist noch nicht richtig hell und die Yaru kann noch unterwegs sein. Wenn dir auch etwas geschieht, stehe ich in dieser erbärmlichen Wildnis allein.“
„Dann wendest du dich an Jagura…sie wird dir weiterhelfen.“
„Nichts dergleichen werde ich dann tun…“ erwiderte Seleste hitzig.
Thora sah Seleste durchdringend an und drückte ihr statt einer Antwort die Wasserkaraffe in die Hand und deutete auf Andromeda, die mit fiebrig glänzenden Augen den Disput ihrer Freunde verfolgt hatte.
„Thora…“ wisperte sie mit heiserer Stimme…“du musst an den Höhlen vorbei und dann den Hügel hinauf. Du kannst den Weg nicht verfehlen…gib Acht…“
„Sei still…“ fuhr Seleste dazwischen…“du redest zuviel“.
Thora drückte Selestes Schultern. „Macht euch keine Sorgen. Ich werde den Weg schon finden.“
Sie warf den kleinen Rucksack über die Schulter, heftete eine Lampe an ihren Gürtel, ergriff nach kurzer Überlegung die scharfe Machete und trat hinaus in das morgendliche Zwielicht.
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Mit leichtem Schritt lief sie den Weg entlang in Richtung der Höhlen, an denen sie am Tag ihrer Ankunft vorbeigekommen waren. Danach stieg das Gelände sanft an und an seinem höchsten Punkt musste Jagura zu finden sein, deren Heilkünste vermutlich von Seleste nicht ganz ernst genommen wurden.
Thora wusste, dass nur wenige Menschen ein solches Heilwissen besaßen und besonders in dieser für sie noch fremden Wildnis, deren Fauna und Flora ihr völlig unbekannt waren, war sie trotz ihrer umfangreichen Kenntnisse auf diesem Gebiet auf die Hilfe von Jagura angewiesen, die die Naturschätze ihrer wilden Heimat wie keine andere kannte.
Was erwartete sie von Jagura? Wie Seleste gesagt hatte, war Jagura bei allen unbeliebt. Man begegnete ihr mit Misstrauen und sie hatte sich in die einsame Bergwelt des Naturreservats zurückgezogen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass diese Frau ein wirksames Mittel aus der hiesigen sehr reichhaltigen Naturapotheke kannte, welches Andromeda helfen würde, denn es sah sehr schlecht für die Freundin aus. Die Wunden verheilten wohl, aber das Fieber war an einer kritischen Grenze angelangt und die Zeit drängte.
Sie strauchelte und fiel der Länge nach hin.
„Verfluchte Wildnis…“ schimpfte sie halblaut und befreite ihre Beine von Schlingpflanzen, die sich fast selbstständig immer wieder neu um ihre Knöchel schlängelten.
Ein heller, leicht heiserer Schrei, der das morgendliche Zirpen und Zwitschern der fremdartigen Vogelwelt übertönte, ließ sie aufhorchen. Die Ursache musste sich unweit hinter dem nächsten kleinen Erdhügel befinden. Doch sie hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern und es klang nicht sehr gefährlich. Doch als sie den kleinen Hügel umrundet hatte, stockte ihr der Atem.
Im von Nebelschwaden durchsetzten Dämmerlicht erkannte sie das Wesen, welches sie am Vortag mit solcher Vehemenz verteidigt hatte. Doch dies hier war nicht das Muttertier…es war das Yaru-Junge! Demzufolge konnte die Mutter nicht weit sein und würde jeden Augenblick auftauchen, zumal das Junge immer wieder kläglich schrie. Es war so lang, wie Thora hoch war und stand auf sechs halbhohen schuppenbedeckten Beinen, dessen hinteres Beinpaar sich in einer starken Astgabel verfangen hatte.
Immer wieder versuchte es vergeblich, sich daraus zu befreien. Der schon recht starke, mit hornigen Schuppen bewehrte Schwanz schlug hin und her und die rötlichen, großen Augen starrten sie in wilder Feindseligkeit an. Am Hals waren noch keine Drüsen zu erkennen und das Tier war somit noch lange nicht ausgewachsen.
Thora überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Es war nicht das erste Mal, dass sie in einer fremden Wildnis einem noch fremderen Wesen gegenüberstand. Sie musste weiter und durfte sich nicht lange mit diesem Tier aufhalten. Wenn sie nicht von dem wesentlich größeren Muttertier überrascht werden wollte, dessen dumpfe, schwere Schritte sie bereits zu vernehmen glaubte, musste sie schnell handeln.
Rasch schlug sie einen Bogen in das dichte Gehölz und näherte sich dem Yaru-Jungen von hinten. Geräuschlos schob sie sich so dicht an das Tier heran, dass sie es fast berühren konnte. Geschickt wich sie dem peitschenden Schwanz aus, der immer wieder den Blick auf die Astgabel verdeckte, in der sich das Tier verfangen hatte.
Als mit einem ohrenbetäubenden Laut das riesige Muttertier aus dem Gehölz brach, entfuhr Thora ein lauter Schrei. Fest umklammerte sie mit beiden Händen die Machete, mit der sie das Jungtier aus seiner Falle befreien wollte und fixierte das riesige Alttier, aus dessen furchterregendem Maul ein dumpfes kehliges Grollen drang.
Der Schweiß brach ihr aus allen Poren und sie wusste, dass sie einem Angriff dieses Muskelpaketes nichts entgegenzusetzen hatte. An den schlaffen Drüsenbeuteln erkannte sie, dass sie das gleiche Tier vor sich hatte, welches Andromeda fast tödlich getroffen hatte. Nur keine Angst zeigen…hatte der erfolgsgewohnte Vater ihr immer wieder eingebläut.
Nun zeige, wie stark deine schwachen Nerven sind…du dummes Gör…schalt sie sich. Gegen ein nervöses, zu allem entschlossenes wildes Tier konnte mit fast bloßen Händen auch eine erfahrene Jägerin nichts ausrichten.
Es war nun vollständig hell und die Yaru hielten sich tagsüber in ihren Höhlen auf, da sie nachtaktive Tiere waren. Sie hatte wohl in Erwägung gezogen, dass diese Tiere eventuell noch unterwegs waren und auch Seleste hatte sie davor gewarnt, doch sie hatte alles auf eine Karte gesetzt und nicht damit gerechnet, diese im einsetzenden Tageslicht noch anzutreffen.
Das in dem Astgewirr verfangene Jungtier änderte die Situation jedoch völlig. Da die Tiere sehr wertvoll waren und aus diesem Grund unter strengem Schutz standen, durften sie nicht gejagt werden. Wer sich ihnen ohne jeden Schutz gegenüber stellte, war selbst schuld.
Unbewegt musterte sie die Yaru, die unruhig mit dem Kopf pendelte und den Blick nicht von ihrem Jungen ließ. Jetzt oder nie…
Mit einem entschlossenen Satz sprang sie vor, wich dem schuppigen Schwanz des Jungtieres aus und hieb mit einem kräftigen Schlag der Machete im richtigen Augenblick die Astgabel entzwei. Mit einem wilden Satz schoss das befreite Jungtier davon und Thora brachte sich vor dem Muttertier in Sicherheit, welches zunächst fast perplex hinter ihrem flüchtenden Jungen hersah und dann mit einem lauten fauchenden Grollen hinterher preschte.
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„Du bist sehr mutig…Fremde…“ erklang eine heisere Stimme hinter ihr. Thora wandte sich langsam um und musterte überrascht die hohe, schmale Gestalt, deren weißes Haar fast zottig bis auf die Schultern fiel. Die harten Mundwinkel der Frau verzogen sich zu einem warmen Lächeln, welches auch die klugen Augen erreichte.
Thora entspannte sich und sie registrierte erst jetzt das leichte Zittern der Anspannung, welches die unverhoffte Begegnung mit der Yaru ausgelöst hatte.
„Du musst Jagura sein…“ stellte sie erleichtert fest.
„Stimmt, Thora…und ich kenne deinen Namen und zum größten Teil deine Geschichte. Auch weiß ich, dass du zu mir willst und das Andromeda dringend Hilfe benötigt. Deshalb bin ich dir schon entgegengegangen.“
Thora nickte anerkennend und als Jagura aus den Falten ihres einfachen, aber sauberen Gewandes ein fest geschnürtes Säckchen aus reißfesten Blättern hervorzog, wusste sie, dass sie nun eine Medizin für Andromeda bekam. Jagura nahm Thoras Hand, öffnete sie und legte das Säckchen hinein.
„Hier…Thora, das ist für Andromeda! Eile dich, denn die Zeit drängt. Es ist ein Pulver aus Samyrablättern, Bouragolsamen, eine Mischung aus Venallkräutern und natürlich das Paynarkoserum der Yarus. Du musst etwas in erwärmtem Wasser auflösen und Andromeda einflößen. Das Fieber wird schnell sinken und sie kommt wieder zu Kräften.“
Jagura schwieg einen Moment und fügte dann leise hinzu…
„Andromeda hat mir einmal das Leben gerettet und ich stehe tief in ihrer Schuld.“
Sie strich mit ihren schwieligen Händen über Thoras Wange.
„Du bist ja ganz blass…Kind! Mach dir keine Sorgen…das wird wieder. Es gibt nichts, was Jagura nicht heilen kann.“
„Danke…Jagura“…brachte Thora hervor. Spontan umarmte sie die Frau, in deren herben Zügen sich ein fast glückliches Lächeln ausbreitete und ihr Gesicht in einer natürlichen Schönheit erstrahlen ließ.
„…nun geh…Thora und grüße Andromeda! Und wenn du magst, dann besuche mich einmal. Ich zeige dir dann, wie du das Drüsensekret der Yaru bekommst, ohne sie zu betäuben.“
„Das werde ich gerne tun, Jagura…“ nickte Thora lächelnd.
Rasch wandte sie sich dann ab und winkte der großen hageren Frau noch einmal zu.
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Im Laufschritt eilte sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Als sie die Tür zum gut getarnten Basislager aufstieß, blickte Seleste überrascht auf.
„Schon zurück…Thora? Du bist doch noch gar nicht so lange fort. Hast du etwa aufgegeben?“
Thora vermeinte einen Hauch von Ablehnung in Selestes Stimme heraus zuhören.
„Nein, Seleste…ich gebe nie auf“, und hob das Säckchen mit dem Pulver.
„Hier ist Medizin für Andromeda. Jagura ist mir bereits entgegengekommen. Sie ist nicht nur eine Heilerin, sondern wohl auch eine Hellseherin.“
Bei diesen Worten rührte sie bereits die von Jagura vorgeschriebene Menge des Pulvers in ein Gefäß mit angewärmtem Wasser.
Missbilligend sah Seleste auf die graugrüne Flüssigkeit.
„Und dieses Giftzeug willst du nun Andromeda geben? Und sie am Ende endgültig damit um die Ecke bringen…“ herrschte sie Thora an. „Aber nicht mit mir…!“
Thora kämpfte um ihre Fassung und deutete auf Andromeda, die mit schweißbedecktem Gesicht und geschlossenen Augen leise stöhnte.
„Seleste…“ appellierte sie an die Vernunft der Freundin…“es ist ihre einzige Chance und sie ist selbst damit einverstanden gewesen, dass ich mit Jagura Verbindung aufnehme.“
Zornig stampfte Seleste mit dem Fuß auf.
„Nein…ich will es nicht…hörst du! Du musst hier lernen…nicht ich!“
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Ein leises Geräusch von der Tür unterbrach den Disput der beiden Frauen.
„Jagura…“ hauchte Seleste.
„Schluss jetzt…“ erklang die entschlossene Stimme der weißhaarigen Frau „Ich habe es geahnt, dass es hier Schwierigkeiten gibt, Thora. Deshalb bin ich dir gefolgt. Andromeda wird das jetzt trinken und zwar sofort. Komm…Thora…hilf mir!“
Thora löst sich aus ihrer Erstarrung und widmete sich mit Jagura der Patientin.
Die Heilerin schob ihre sehnigen Arme unter die Schultern von Andromeda und setzte sie auf. Thora registrierte den warmen Unterton in der energischen Stimme Jaguras.
„Hier…Andromeda…du trinkst das jetzt aus und dann geht es wieder aufwärts. Sollst mal sehen…gegen jede Krankheit ist ein Kraut gewachsen. Man muss nur wissen, welches.“
Die fiebrig glänzenden Augen wanderten von der Heilerin zu Thora und ein schiefes Lächeln stahl sich in Andromedas Gesicht.
„…Jagura…sicher doch…auf dich ist immer Verlass! Oh…mein Kopf…!“
In kleinen Schlucken und ohne eine Miene zu verziehen, trank sie die trübe Flüssigkeit aus und ließ sich mit einem erleichterten Seufzer zurücksinken.
„Danke…Mädels…wo ist denn Seleste?“
„Hier bin ich…Andromeda…“ erklang Selestes aufgebrachte Stimme aus dem Hintergrund. „Nun haben wir schon zwei Giftmischerinnen hier…schweren Zeiten gehen wir entgegen.“
Nach diesen Worten riss sie die Tür auf und stürmte hinaus ins Freie.
Andromeda zuckte gequält zusammen, als die Tür zuschlug und murmelte undeutlich…“Giftmischer…? Das ist doch absurd…Seleste…“
„Lasst sie…sie wird sich beruhigen und wiederkommen…“ riet Jagura. „Hier geht es um wichtigere Dinge als meine Anwesenheit und Selestes unverständliche Einstellung dazu.“
Thora stellte fest, dass Andromeda bereits in einen tiefen erholsamen Schlaf gefallen war. Jagura begutachtete Andromedas Wunden und nickte beifällig. Dann mischte sie einen Teil des mitgebrachten Pulvers mit etwas abgekochtem Wasser und strich die Masse vorsichtig über die genähten Wunden.
„Wird sie es schaffen…Jagura…"fragte Thora die Heilerin leise und versuchte, das leichte Vibrieren in ihrer Stimme zu verbergen.
Die hellen Augen Jaguras musterten sie durchdringend und die rauen Hände legten sich sacht auf ihre.
„Sie wird…Thora…sie hat es schon. Und ich bleibe noch, bis sie wieder erwacht und über den Berg ist. Dann muss ich gehen…! Und du, Thora…kämpfst deinen eigenen inneren Kampf und bist selbst dein größter Feind. Höre auf damit…und du überwindest die Hürden! Wenn du nicht mehr weiter weißt…du weißt ja jetzt, wo ich zu finden bin….“
Thora schluckte hart und fühlte sich von den klugen Augen bis auf den Grund ihrer Seele durchschaut.
„Danke…Jagura…ich…ich glaube, ich werde mal nachsehen, wo Seleste ist.“
„Tu das…sie ist in der Nähe. Sie hat zuviel Angst, um allein durch die Wildnis zu laufen. Und sie lehnt mich ab…wie alle…und trotzdem mag ich sie!“
„Ich dachte, ich kenne Seleste inzwischen und nun muss ich feststellen, dass ich mir auch in dieser Hinsicht noch viel erarbeiten muss..“ erwiderte Thora und hob ratlos die Schultern. Sie sah noch einmal nach Andromeda, die friedlich ihrer Genesung entgegen schlummerte. Dann öffnete sie leise die Tür und trat hinaus in das helle Morgenlicht.
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Nach kurzem Suchen entdeckte sie Seleste, die in Gedanken versunken an einem Baum lehnte. Geräuschlos trat sie hinzu und legte eine Hand behutsam auf die Schulter der Freundin. Seleste sah auf und Thora erschrak, als sie deren verärgerten Gesichtsausdruck sah.
Die frostige Stimme ließ sie erblassen…
„Habt ihr es endlich geschafft? Oder ist es noch nicht soweit…?“
Entgeistert erwiderte Thora Selestes zornigen Blick
„Und du…Thora…einen seltsamen Schlaf hast du! Ich sage nur…Tarouma…“
Verbittert schwieg sie.
„Seleste…das ist eine lange Geschichte und sie liegt schon weit zurück. Dann wirst du verstehen…“
Vergeblich suchte sie nach einem Hauch von Einsicht in den verschlossenen Zügen von Seleste.
„Auf meinen Forschungsreisen in den alten Welten bin ich in der Vergangenheit bereits zweimal auf Taroumas Spuren gestoßen und ich hätte nicht eher geruht, bis ich den Weg nach Zoran – Dhaar und damit zu Tarouma gefunden hätte. Ich bin hier gestrandet und ich konnte nicht ahnen, dass sich hier auf so dramatische Weise meine Wege mit dem rätselhaften Wesen kreuzen. Glaube mir…es gibt…“
„Am besten wäre es…“ schnitt Seleste ihr das Wort ab…“du gehst dahin zurück, woher du gekommen bist… es hat deinetwegen hier schon genug Unglück gegeben.“
Erschüttert starrte Thora Seleste an…dann wandte sie sich ab und ging langsam den Weg entlang in die fremde Wildnis.
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Tief in Gedanken versunken achtete sie nicht mehr auf den Weg.
Ja…Seleste hatte wohl recht. Wieder einmal bewahrheitete es sich, was sie insgeheim immer belastete. Die neue Freundin hatte es in ihrer direkten Art und unter dem verständlichen Druck der letzten Ereignisse ausgesprochen.
Wo immer sie sich befand, war und blieb sie ein Fremdling.
Andromeda war auf dem Wege der Besserung und bei Jagura und Seleste in den besten Händen. Dies war deren Heimat und sie hatte hier viele Freunde, die ihr jeden Wusch von den Augen ablasen.
Heimat!? Welch ein Wort! Wo war ihre Heimat? Hatte sie eigentlich jemals eine gehabt?
Oh ja…und sie dachte an die sorglosen und unbeschwerten Jahre auf Laugroa. Danach hatte sie zunächst ihren Vater auf seinen ausgedehnten Exkursionen durch die Welten begleitet und eine Menge von ihm gelernt. Später hatte sie ihre Forschungsreisen allein bewältigt und sich in der Folge gleichgesinnten Freunden angeschlossen.
Auf einer dieser Missionen war sie dann Andromeda begegnet und noch bevor sie diese so plötzlich aus einer fernen Welt aufgetauchte Forscherin richtig kennen lernte, hatten sich ihre Wege wieder getrennt, um sich bald darauf auf eine dramatische Weise wieder zu kreuzen.
Kein Problem gab es, was sie auf ihrem bisherigen Weg nicht hatte lösen können…wo immer sie auch strandete, fand sie einen Weg, der sie weiterführte. Doch nirgendwo hatte sie bisher das gefunden, was sie eigentlich stets unruhig suchte. Was das war…konnte sie selbst nicht genau definieren. Sie folgte einem Ruf, der niemals verstummte.
Warum war es so schwer, einen Weg zu den Herzen der Menschen zu finden, die ihren Pfad kreuzten, dachte sie traurig.
Heimat….! Das war etwas, wohin man sich immer wieder gern für kurze Zeit zurückziehen konnte…wo man Kraft tankte für den weiteren Weg ins Ungewisse und vor allem…und das war das wichtigste…Heimat war dort, wo es Menschen gab….von denen man verstanden wurde. Vielleicht war auch das ein Teil ihrer unruhigen Suche.
Seleste hatte in ihrer Ehrlichkeit eine brutale Wahrheit ausgesprochen. Die Sorge um Andromeda hatte Seleste jede Rücksichtnahme auf die neue Freundin aus den alten Welten vergessen lassen.
Sie dachte wieder an Tarouma…dieses unbegreifliche Wesen.
War nicht deren geistige Existenz in den Kristallen eine erstrebenswerte Form des Lebens? Wie einfach dann alles sein musste…
Sie betrachtete angelegentlich ihren Ärmel. Schillerte nicht der Kristallstaub als dünne Schicht noch auf dem Stoff? Mit klopfendem Herzen blies sie sacht darüber und sah den schimmernden Partikeln nach, die langsam zu Boden sanken. Eine Vision…dachte sie unwirsch. Sie war nicht körperlich auf Zoran – Dhaar gewesen, folglich konnte sich auch kein Kristallstaub auf den Kleidern befinden.
Plötzlich trat sie ins Leere und rollte, sich immer wieder überschlagend, einen flachen, Abhang hinunter. Immer wieder stieß sie gegen moosüberwuchertes Gestein, doch das dichte Strauchwerk bremste ihren jähen Sturz ab.
In einem schlammigen Bachbett kam der fallende Körper zur Ruhe. Schnell zogen dunkle Wolken zogen auf und der kräftige Regenschauer verwandelte das schmale Rinnsal des Baches in einen reißenden Wasserlauf.
Benommen blieb sie liegen und langsam drang das Wasser durch ihre Kleidung.
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