Derweil in der unterirdischen Schatzkammer der Welten…
Bis auf ihre Atemzüge und dem sich langsam beruhigenden Herzschlag gab es keinerlei Geräusche. Es war eine Stille, die zu keiner Zeit unheimlich oder bedrückend wirkte…sondern ein Zustand, den man mit allen Sinnen erlebte und förmlich greifen und hören konnte.
Auch die zweite Säule, von der Thora die letzte Steinplatte an sich genommen hatte, war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben und die Bodenplatten mit den prachtvollen Mosaiken hatten sich nahtlos wieder zusammengefügt. Das mystische Relief, welches nach einer unbekannten Gesetzmäßigkeit den Boden zierte, tauchte mit einem sanften Leuchten den rätselhaften Raum mit den zahlreichen Weltentüchern in ein weiches, beruhigendes Licht.
Thora schloss die Augen und atmete tief die kühle und seltsam frische Luft ein, die von irgendwoher ständig erneuert wurde. Der verkrampfte Griff um das Verbindungsbuch mit dem lilafarbenen Einband, welches sie dem widersprüchlichen Reynam bei ihrer überstürzten Flucht abgenommen hatte, lockerte sich langsam. Reynam hatte somit vorerst keine Möglichkeit, zu seinem Gut Maremmen zurückzukehren.
Sie wusste nicht viel von ihm, denn dazu hatte die Zeit nicht gereicht. Doch das Wenige, welches sie in seiner Gegenwart erlebt hatte, reichte aus, um sie in einen Strudel von zwiespältigen Gefühlen zu stürzen. Denn Reynam war beides…er war gefährlich und unberechenbar…doch auf der anderen Seite von freundlichem, aufgeschlossenem Wesen. Konnte es sein, dass er von zwei ausgeprägten Persönlichkeiten beherrscht wurde, die abwechselnd…je nach äußeren Einflüssen die Oberhand gewannen und somit sein Handeln beeinflussten?
Doch wie auch immer….dieses Problem konnte sie allein nicht lösen. Sie musste nun so schnell wie möglich nach Gut Maremmen und zu den Freunden aufschließen, die versuchten, etwas über den mysteriösen Hilferuf einer unbekannten Forscherin herauszufinden. Nach dem Wortlaut des Hilferufes gab es triftige Gründe zu der Annahme, dass Gut Maremmen der Ausgangspunkt von diesem war.
Thora schlug Reynams Verbindungsbuch auf und betrachtete das Bild des Herrenhauses, welches mit dem Bild der Festung auf dem Weltentuch in der Schatzkammer bis auf die Perspektive fast identisch war. Entschlossen nickte sie…sie würde statt dem Weltentuch diesmal Reynams Buch benutzen, um nach Gut Maremmen zu gelangen.
Noch einmal sah sie sich in dem stillen, halbdunklen Raum um…sie würde wiederkommen….irgendwann. Es wurde Zeit…ruhig legte sie die Hand auf das flimmernde Bild.
Als die neue Umgebung sich stabilisierte, hielt sie für einen Augenblick überrascht den Atem an. Sie befand sich nicht, wie sie erwartet hatte, außerhalb der Festung, sondern in einem großzügig bemessenen runden Raum, durch dessen farbigen, transparentem Kuppeldach das helle Tageslicht flutete. Gegenüber dem einzigen, bleiverglastem, schmalen Fenster befand sich eine wuchtige Tür aus edlem, dunklem Holz mit einem glänzend polierten Türknauf. Deckenhohe, halbrunde Bücherregale bedeckten die Wände zu beiden Seiten des Portals. Eines der Regale wurde von einem lichtdurchlässigen glasartigen Material hermetisch verschlossen. In der Mitte des Raumes, der mit kostbaren Teppichen ausgelegt war, vervollständigte ein schwerer massiver Schreibtisch die gediegene Einrichtung.
Staunend sah Thora sich um. Vermutlich befand sie sich in Reynams Arbeitszimmer. Sie trat an das verschlossene Bücherregal, woran keinerlei Öffnungsmechanismen erkennbar waren und betrachtete die mit geheimnisvollen Symbolen versehenen Einbände der gut bestückten Bibliothek. Die Bücher wurden in dem hermetisch abgeschlossenen Regal absolut staubfrei aufbewahrt und eine fast mystische Aura umgab die bunten Einbände.
Andächtig glitt Thoras Blick über die viel versprechenden Buchrücken und ihr Herzschlag beschleunigte sich…dies waren wahrscheinlich Reynams Reisebücher, die er gesondert gesichert hatte und sie war davon überzeugt, dass augenblicklich ein Alarm ausgelöst wurde, wenn sich Unbefugte an diesem Regal zu schaffen machten.
Sie wandte sich der Tür zu und drehte vorsichtig an dem prunkvollen Knauf. Er bewegte sich…aber die Tür war verschlossen. Thora seufzte…wie sollte sie nun unbemerkt hier herauskommen, um sich in der Festung umzusehen? Vermutlich trug Reynam den Schlüssel bei sich.
Unschlüssig ging sie zum Schreibtisch, auf dem eine Kommunikationseinheit mit einem Flachbildschirm stand. In der fast ebenholzschwarzen Schreibtischplatte befanden sich in einer leichten Vertiefung mehrere Sensoren, von denen eines in einen sanften blauen Ton leuchtete. Sie strich leicht mit dem Finger darüber und schluckte überrascht, als der Bildschirm sich augenblicklich erhellte. Er zeigte einen mit Teppichen ausgelegten, langen Korridor, der sich wahrscheinlich irgendwo in den Tiefen der Festung befand. Die Beobachtungseinheit musste sich etwas unterhalb der Decke befinden, denn sie konnte den unbekannten Gang von oben gut überblicken.
In regelmäßigen Abständen führten von diesem Eingänge in die seitlichen Gemächer, die aber…Thora blinzelte verwirrt…nicht durch Türen verschlossen waren, sondern durch massiv wirkende, engmaschige Gitterstreben. Was hielt Reynam hier unter Beobachtung? Wer oder was befand sich in den vergitterten Räumen? Denn zweifellos handelte es sich hier um ein Gefängnis…zwar ein komfortables, denn das bewies der mit dicken Teppichen ausgelegte Korridor…aber es war eindeutig ein Gefängnis.
Thoras Herz schlug heftig…sollte sich hier etwa die fremde Forscherin befinden? Sie beobachtete die Szene auf dem Bildschirm eine ganze Weile, doch es gab in diesem Abschnitt der Festung keinerlei Aktivitäten oder Bewegungen und niemand zeigte sich an den Gittern.
Versuchsweise berührte sie einen der anderen farblosen Sensoren, der unmittelbar danach in einem roten Signalfarbe aufleuchtete und hektisch blinkte. Nach einem schnellen Blick auf den Bildschirm stieß sie einen leisen triumphierenden Schrei aus. Eines der Gitter schob sich langsam in die Höhe und gab den dahinter liegenden Eingang frei. Angespannt fixierte sie den Bildschirm…doch in dem freigegebenen Raum schien sich niemand aufzuhalten.
Kurz entschlossen drückte sie alle Sensoren, die sich in der Vertiefung der Schreibtischplatte befanden und ballte erregt die Fäuste, als sich sämtliche Gitter mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in die Höhe schoben und die Räume freigaben. Sie war in keiner Weise überrascht, als aus einem der Räume eine weibliche dunkelhaarige Person, deren Gesicht sie aus der Kameraperspektive nicht erkennen konnte, vorsichtig in den Gang lugte…um dann mit raschen Schritten davon zu huschen. Schon nach wenigen Augenblicken war sie aus Thoras Blickfeld verschwunden.
„Hitana…?“ flüsterte Thora. War die unbekannte Person mit der gesuchten Forscherin identisch? Thora hoffte es. Da Reynam sich nicht in der Festung aufhielt, sollte ihr nun die Flucht gelingen. Andererseits konnte Hitana dies noch nicht wissen und würde sicher rätseln, warum sich urplötzlich ihr Gefängnis geöffnet hatte. Doch mehr konnte Thora für sie nicht tun, denn sie selbst hatte im Augenblick keine Möglichkeit, durch die massive verschlossene Tür ins Innere der Festung zu gelangen.
Lautes heiseres Krächzen ließ sie zum Fenster sehen. Sie riss sich von dem Bildschirm los und drehte vorsichtig an dem einfachen Fensterhebel. Frischer Wind und feiner Nieselregen schlugen ihr durch das kunstvoll geschwungene Außengitter entgegen, welches sicher zum eigenen Schutz dort angebracht war. Sie befand sich im höchsten Turm der Festung und hatte von hier oben einen grandiosen Blick über das Land.
Weite saftig grüne Wiesen, durchsetzt von hohen, dichten Hecken…in der Ferne die Steilküste, an der die Wellen des heute grau aussehenden Meeres sich donnernd brachen. Die niedrig hängenden bleigrauen Wolken unterstrichen die elementare Szene und bildeten die passende Kulisse für eine herbe Melodie.
Ein kleiner Vogel jagte mit heiserem Krächzen und wildem Flügelschlag über die Flur…gefolgt und begleitet von zwei riesigen, dunklen Sturmvögeln, die ihre ungestüme Lebenslust laut in der rauhen Wind kreischten.
Corac…das war Corac…der kleine, ehemals hilflose Vogel, der Cathy seine glückliche Rettung verdankte und dem sie, Thora zu seinem neuen Leben in diesem Land verholfen hatte. Stolz beobachtete sie seine weiten Runden, die er mehrmals über der Festung drehte, bevor er in Richtung des tobenden Meeres davonflog…gefolgt von seinen zweifellos fürsorglichen und vielleicht auch entnervten Adoptiveltern, die ihn immer noch keine Sekunde aus den Augen ließen. Nach kurzer Zeit wurden sie von den tief über dem Meer ziehenden grauen Nebeln verschluckt und ihre Schreie verloren sich im Sturmwind.
Thora musterte die vom leichten Dunst verhangenen Wiesen. Der Wind trug undeutliche, leise Wortfetzen zu ihr hinauf an das Turmfenster. Sie umklammerte mit beiden Händen die kräftigen Gitterstäbe und vermeinte, in der Nähe einer Hecke eine kleine Menschengruppe zu sehen, doch sie konnte nicht erkennen, wer es war. Auch hatte sie den Eindruck, dass die kleine Gruppe die dichten Hecken als Sichtschutz benutzte. Da Thora nicht wusste, welche Ziele diese Personen verfolgten, verzichtete sie lieber darauf, sich bemerkbar zu machen.
In Gedanken versunken sah sie über das Land…der Wind zerzauste ihr das Haar und trieb den Nieselregen wie ein Schleier ins geöffnete Turmfenster. Was sollte sie nun tun? Wo waren Sharie und Cathy? Zudem hatte sie nicht die geringste Ahnung, was sich in diesem weitläufigen Herrenhaus abspielte und ihre Sorge um die Freunde wuchs…
Sie hatte zwei Möglichkeiten… entweder sie begab sich mit Hilfe der Metallplatte, die sie mit Sharie gefunden hatte, zurück zur Schatzkammer der Welten…oder sie kehrte heim…ins Relto. Einsam stand sie am Turmfenster und das zuletzt dominierende Gefühl einer unbestimmten Traurigkeit wich trotziger Entschlossenheit…
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